zu hören auf Soundcloud Track 1
Der Conductus ist ein Geleitgesang, der liturgische Handlungen wie Ein- und Auszugsprozessionen und das feierliche Tragen des
Evangeliars zum Ambo begleitet. Gibt es mehrere Stimmen, so haben alle den gleichen Text,
im Gegensatz zur Motette, in der Mehrtextigkeit typisch ist.
Alle Stimmen werden neu komponiert und die Texte neu gedichtet, wobei auf jede Silbe gleichmäßig nur ein Ton oder eine kleine
Tongruppe gesetzt wird.
„Ave maris stella“ aus einer der zentralen Notre-Dame-Handschriften des 13. Jahrhunderts (Florenz, Bibliotheca Mediceo-Laurenziana, Pluteo 29, I) ist dreistimmig.
Darin wechseln beständig Passagen melismatischen Singens in allen drei Stimmen mit solchen, die syllabisch fortschreiten.
Die Musik und der Texttransport geraten in eine Art „Ziehharmonika“-Schwingung, so als wechselten die ins Wort
gebettete Anbetung mit der voraus- und nachschwingenden wortlosen Kontemplation. „Deus ineffabilis“ - der unaussprechliche Gott -
dieses das Mittelalter durchziehende Bild läßt sich auch in der Musik nieder: Im textlosen (melismatischen) Singen drückt
sich die zu Gott sprechende Seele wohl in der größtmöglichen Nähe zu ihm aus. So wie Er mit Worten nicht zu umfassen,
nicht zu ergründen ist, ist auch die ohnmächtige Sprache des Menschen ein allzu geringes Medium, Ihn anzurufen. Doch im „cantare sine littera“ - im Singen ohne Worte - ist eine Verständigungsebene erreicht, wie sie ähnlich nur für die Glossolalie, das Zungenreden als gottesnah erachtet wurde. Dabei kann mitgedacht werden, daß „cantare“ auch immer gleichzeitig „sagen“ heißt; man „spricht“ also im Singen auch zu Gott.
So ist alle mittelalterliche Melismatik keine „reine“, „abstrakte“ Musik im Sinne der sehr viel später sich emanzipierenden Instrumentalmusik, sondern sie ist noch lange gespeist von diesem Gedanken des wortlosen Jubilierens - im „Jubilus“ des Alleluia z. B. nicht umsonst besonders hervortretend, aber auch in allen anderen Gattungen mittelalterlicher Musik.